Serendipity

Der Versuch einer Geschichte

„Finden,“ sagte der alte Mann „Finden ist die Kunst, nicht Suchen!“ Er wühlte in seinen Taschen. „Alle suchen heutzutage nach irgend etwas, manche haben sogar schon vergessen, wonach sie suchen. Suchen kann jeder Trottel, und deswegen erkennt man die Trottel auch daran, dass sie suchen. Ja, Finden, das ist die Kunst! Verdammt! Wo ist denn …“ Der alte Mann hatte viele Taschen und Beutel, auch seine Kleidung zeichnete sich durch diesen Reichtum aus. Allein an und in seiner Hose schienen sieben Taschen zu sein und sicher hatte er auch noch ein paar verborgene Verstecke und er wühlte sehr systematisch und langsam in ihnen. Der junge Mann lächelte in sich hinein. „Ach, ich finde meine Geldbörse nicht, kannst du bitte bezahlen? Danke, wir sehn uns!“ Damit war der alte Mann verschwunden, mitsamt allen seinen Taschen. Der junge Mann hatte nicht einmal die Tür klappen gehört. Als er das Geld auf den Tisch warf, entdeckte er das kleine Päckchen. Es war seltsam geformt, etwas wie ein Prisma, aber verwirrend, weil die Kanten, als er an ihnen entlang strich, nicht zu den Ecken liefen, sondern plötzlich auf anderen Kanten verliefen. Das graubraune Packpapier und die saubere rote Kordel sahen ganz normal aus.  Doch jedes Mal, wenn der junge Mann genauer hinschauen wollte, um den Verlauf der Kanten zu sehen, verlor er das Interesse an dieser Kante. Der junge Mann schüttelte den Kopf, steckte das Päckchen in die Manteltasche und verließ das Café.

In der Tür blieb er stehen, das blaue Licht des frühen Nachmittags blendete ihn. Er spürte dieses Gefühl der Unklarheit, des Sehnens, der Verwirrung schon wieder. „Entschuldigung, können wir durch?“ Erschreckt trat der junge Mann für ein Pärchen in Plüsch beiseite. Er hatte die Tür wohl blockiert, ein Verhalten, das er sonst auch nicht leiden konnte. Immer blieben die Leute in Türfüllungen, Drehtüren, am Anfang oder am Ende von Rolltreppen stehen und schauten wie in Trance um sich herum. „Trottel!“ hörte er noch, als die Tür ins Schloss fiel. Das kam von der jungen Frau. Der rosa Plüschmantel, den sie trug, war die neueste Mode, der dazu gehörende Mann, mindestens zwanzig Jahre älter und mit schütterem Haar, trug eine froschgrüne Plüschjacke. Wie die meisten Moden sah es unangemessen aus, der junge Mann mochte es nicht, sich einer Mode, einem Gebrauch anzupassen, er zog es vor, unauffällige, dunkle Kleidung zu tragen. „Trottel?“ Der junge Mann lächelte in sich hinein, ja, da hatte der alte Mann wohl tatsächlich einen Trottel gefunden. Nicht nur, dass der junge Mann ihm freimütig von seiner Suche, seinem Traum, seiner Sehnsucht erzählt hatte, er selbst hatte auch noch für den Kaffee bezahlt, während er glaubte, den alten Mann bei einem Widerspruch ertappt zu haben. Wieder ein Gleichnis. Die Welt um ihn herum schien ihm schon lange ein Gleichnis geworden zu sein. Wohin er schaute, sah er philosophische Weisheiten verkörpert, spielten die Leute ihm schicksalshafte typische Verflechtungen vor, sah er Lehren aus falschem und richtigem Verhalten verkörpert. Es fehlte nur noch, dass kleine Labels auftauchten mit den Namen der großen Philosophen: „Diese Erfahrung wurde Ihnen präsentiert von SUKROTES, der Verwertungsgesellschaft für den größten Philosophen unserer Welt!“ Es waren immer die größten Philosophen. Wenn es nach den Verwertungsgesellschaften ginge, gab es keine kleinen Philosophen, wären alle von ihnen vertretenen Denkerinnen und Denker mindestens doppelt so groß wie normale Menschen, hätten langes wallendes Haar, blitzende Augen, im Falle der Männer riesige Schnurrbärte, im Falle der Frauen rätselhafte und tiefsinnige Schönheit. Er hatte mal einen getroffen. Der Weise war klein, ging ihm bis zur Brust und hatte eine Brille mit dicken Gläsern, so dass er die Augen kaum sehen konnte. Außerdem roch der Mann schlecht. Er war eitel, empfindlich, die leiseste Kritik konnte ihn aus der Bahn werfen. Aber seine Bücher waren brillant, wirklich gut.

Der junge Mann seufzte, so würde er nie finden, was er so dringend brauchte. Er war viel zu zerstreut, viel zu verloren, viel zu sehr auf sich bezogen, viel zu eitel, viel zu – vertrottelt. Das Gefühl, dass ihm etwas fehlte, dass er unvollständig war, war ein sehr altes Gefühl in ihm. Er kannte sich nicht ohne dieses Gefühl. Natürlich wusste er, dass es wohl allen Menschen so ging, aber er war sich dieses Mangels sehr früh bewusst geworden, er war selbst darauf gekommen und er war sich vom ersten Bewusstsein seiner Mangelhaftigkeit klar, dass es in dieser Welt, jetzt, etwas gab, was ihn vollständig, ganz, eins werden würde. Das Problem war nur, er wusste nicht was es war, wo es war und wann. Er wusste gar nichts, außer, dass es das, was er suchte, geben musste.