Das Lernen und das Internet

Manfred Spitzer, ein Psychiater, Neurowissenschaftler und Lernforscher, hat sich einen Namen mit teilweise sehr heftiger Schulkritik gemacht. Sein neues Buch „Digitale Demenz“ ist zur Zeit in den Schlagzeilen, wohl auch, weil er einem allgemeinen Denktrend widerspricht.

Computer, so sagt er in einem Interview, sind „… ganz schlechte Lernwerkzeuge, weil sie uns die geistige Arbeit abnehmen und nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Inhalten führen.“

Ich gehöre ja zu denjenigen, welche seit Jahren den Computer und seine Derivate als Lernwerkzeug in den Lehrinstituten etablieren wollen. Meiner Meinung nach ist das bisher noch nicht einmal ausreichend, geschweige denn sinnvoll geschehen. Insofern ist es schade, dass nun der Widerstand gerade von Spitzers Seite einsetzt. Ich lese Spitzers Bemerkung aber so:

„Computer sind ganz schlechte Lernwerkzeuge, wenn sie uns geistige Arbeit abnehmen und wenn sie nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Inhalten führen.“

Das was die Computer für Jugendliche so interessant gemacht hat, war dessen Interaktivität. Der Computer hat auf einen Eingabe positiv reagiert. Das erleben Jugendliche nicht immer. Oft werden ihre Verhaltensweisen so lange ignoriert, bis sie nicht mehr tolerierbar sind. Und dann ist die Reaktion in der Regel nur eine Strafe, der Entzug von Zuwendung, das Verbot, kurz die volle Gewalt im Namen-des-Vaters (fr. Nom-du-Père), wie Lacan es bezeichnet hat.

Die andere Seite ist die Kommunikation, die Verbindungsaufnahme und der Nachrichtenaustausch als eine besondere Form der Interaktivität. Das Interesse daran hat die SMS und in direkter Nachfolge Twitter und Facebook gepusht, ich vermute sogar stark, vor allem als Folge der speziellen Kommunikationsbedürfnisse von Mädchen und Frauen.

Computer, wie jedes andere Werkzeug werden erst durch die Art und Weise des Gebrauchs nützlich oder schädlich für den Lernprozess. Nach meiner Meinung und Erfahrung findet Lernen am Medienübergang statt. Dort wo ich vom Computer auf ein reales Werkzeug, vom Wikipediaartikel auf das Buch, von der SMS zum Treffen mit meinen Freunden übergehe, findet der eigentliche Lernprozess statt. Das ist es, was Lehrkräfte organisieren müssen. Und das sieht auch Spitzer so.

Bestürzend ist für mich, wie Spitzer das klassische Gejammere „Aktivitäten im Internet würden reale soziale Beziehungen und Betätigungen in den Hintergrund drängen und zu Vereinsamung und Depression führen“ und so weiter kolportiert und mit seiner Autorität untermauert. Damit haben mein Vater und meine Überväter damals schon auf meine Liebe zu Büchern reagiert, das haben wir schon zur Genüge über Computer gehört.

Seitdem wir vom Meissel und der Steinplatte zu Papier und Bleistift übergegangen sind, haben uns neue Medien geistige und körperliche Arbeit abgenommen, aber gleichzeitig neue geistige und körperliche Herausforderungen geschaffen.

Der „Computer“ allein ist kein Subjekt, die Menschen sind die Subjekte und Bücher, der Computer, das Internet, das Handy oder das Gewehr sind exakt so dumm oder intelligent, so nützlich und schädlich wie die Hände, welche diese Werkzeuge führen. Natürlich potenzieren Faustkeil wie Computer die Kräfte der Menschen, natürlich vergrößern Bücher und Internet die Reichweite und die Auswirkungen unserer Subjektivität.

Der kanadische Philosoph und Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hat darauf aufmerksam gemacht, dass unter bestimmten Umständen gilt: „Das Medium ist die Botschaft“. Mit diesem provokativen Satz ist er in die Mediengeschichte eingegangen.

„Viele Menschen sind wohl eher geneigt zu sagen, daß nicht in der Maschine, sondern in dem, was man mit der Maschine tut, der Sinn oder die Botschaft liege. Für die Art und Weise, wie die Maschine unsere Beziehungen zueinander und zu uns selbst verändert hat, ist es vollkommen gleichgültig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs produziert.“

Das Spannende ist für mich, dass die Zuordnung von Subjektivität zu nichtmenschlichen Gegenständen, hier zu Medien, aber auch zu Maschinen und deren Entwicklung ziemlich genau der vulgärmarxistischen Theorie der Produktivkräfte entspricht. Die Entwicklung der Maschinerie wird begriffen als Agens der Geschichte, der die Menschen in revoutionären Bewegungen nur folgen. Geben Sie bei Google mal den Suchbegriff „Die Dampfmaschine revolutioniert“ ein … Sehen Sie?

Für mich entsteht die Bewegung in der Geschichte erst durch das Zusammenwirken von Menschen, Medien, oder Gewehren. Ein Medium muss genutzt, ein Gewehr abgefeuert werden. Es liegt in meiner Entscheidung, ob ich das Gewehr auf meinen Nachbarn abfeuere oder ob ich meinen Nachbarn vor den Attacken von Mördern rette, es liegt in meiner Entscheidung, ob ich meinen Nachbarn mit einem Bericht an den jeweils aktuellen Geheimdienst ausliefere oder nicht. Diese Möglichkeit nennen nicht nur Philosophen „Freiheit“ und das meint Verantwortung.

Die Aktivität des Mediums kommt dazu, wenn wir den Unterschied zwischen der Benutzung einer Keule und der Benutzung eines Gewehrs betrachten. Ein Gewehr ermöglicht ein viel effektiveres Töten als eine Keule. Schwächere Menschen können stärkere Menschen besiegen. Die Erfindung des Gewehrs hat die Ritterschaft vernichtet. Hier ist das Medium die Message, aber eben nicht allein. Wenn mit dem Gewehr getroffen wird, kann das am Gewehr, aber auch am Schützen liegen. Nur der Technik, dem Medium die Verantwortung für die Folgen zuzuordnen ist zwar lustvoller, aber eben falsch.

Pauschale Technikkritik, sofern sie losgelöst wird von Verhaltenskritik und Persönlichkeitsentwicklung, war und ist schon immer reaktionär und ein Zeichen von Angst gegenüber dem unbeherrschbaren größeren Anderen, „dem symbolischen Ort, der das Subjekt einerseits ausserhalb seiner selbst, andererseits intrasubjektiv in seiner Beziehung zu seinem Begehren determiniert“ (Lacan).

Die Projektion dieses verhindernden Anderen auf die jeweils moderne Technik ist nicht hilfreich für die Realisierung des eigenen Begehrens, weil diese Denkweise eine außerpersonale Objektivität konstruiert, welche unverwundbar, übermächtig und nicht beherrschbar wird und damit das Begehren an seiner Befriedigung hindert (barrt).

Die Instrumentalisierbarkeit, die Beherrschbarkeit, die erlernbare intelligente (im Gegensatz zur instinktiven) Nutzbarkeit von Werkzeugen, zu denen Computer und Internet gehören, bleiben für mich das didaktische Hauptthema, das Wie, das Know How. Und dazu habe ich meinen Optimismus nicht aufgegeben.

vgl. dazu Dueck vs. Spitzer auf gutjahr.biz