In meinem Buch „Küchenphilosophen“ stelle ich in einer Geschichte namens »Thales im Brunnen« einen Fall von alltäglicher Intellektuellenfeindlichkeit vor:
Thales im Brunnen
Diotima lässt immer mal etwas fallen. Heute hat sie, ganz in Gedanken, den Fisch, den sie gerade gekauft hatte, in den Dreck fallen lassen und sie musste ihn wegwerfen. Aspasia spottet: »Du, Diotima, bist wie der Philosoph Thales, der einst beim Philosophieren in eine Grube gefallen ist!«
Diotima: »Diese Geschichte hast du wahrscheinlich von Diogenes Laertius, dem wir trotz seiner eitlen Geschwätzigkeit einige, oft die einzigen verlässlichen Informationen über Philosophen des Altertums verdanken. Er berichtet diese Episode als eine Erzählung wohl nach Platon über Thales.
Ein ›altes Weib‹, das ihn begleitete, rief dem Philosophen zu: ›Du kannst nicht sehen, Thales, was dir vor Füßen liegt, und du wähnst zu erkennen, was am Himmel ist?‹
Wenn wir jedoch bedenken, dass Sterne, in Ermangelung von Teleskopen, aus einer Brunnenröhre leichter zu beobachten sind (einen solchen Gelehrten im Brunnen seht ihr in der Abbildung), handelt es sich hier möglicherweise um die aktive Missdeutung und damit Abwertung einer wissenschaftlichen Arbeitsweise. Dieses Weib hat so eine der typischen Weisen entdeckt, wie Ungebildete mit Weisen umgehen: Sie urteilen, meist abwertend und hämisch, statt dass und bevor sie fragen.«
»Hmm, sorry, das mit dem alten Weib beziehe ich jetzt aber mal nicht auf mich!«, antwortet Aspasia. »Das habe ich nicht bedacht. Mitunter sind die Sprüche dieser alten Weiber – die nicht immer weiblich und damit Frauen sein müssen – besser überliefert als die Gedanken der Philosophinnen und Philosophen selber.«
»Ja«, entgegnet Diotima, »ich habe dieses alte Weib auch bei Nietzsche gefunden, wo es als Antwort auf und als Zusammenfassung seiner Überlegungen über Frauen ihre ›kleine Wahrheit‹ sagt: ›Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!‹. Dieser Spruch gilt bis heute als Meinung Nietzsches, selbst wenn im Originaltext weder Nietzsche noch sein alter ego Zarathustra dieser Meinung beipflichten und selbst wenn nicht gesagt wurde, gegen wen die Peitsche durch wen angewendet werden sollte.«
Diese Deutung von intellektuellem Verhalten hat eine lange Tradition, in der auch Platon steht, welcher selbst bis heute offiziell als Philosophenkönig gilt. Insbesondere Platon hat allerdings, erfolgloser Wrestler und Schauspieler, der er war, Sokrates Angriffe gegen diejenigen käuflichen und intellektuell tuenden Herrscherdiener, welche Brecht als TUIs (Tellekt-Uell-Ins) bezeichnete, gegen die Intellektuellen an sich gewendet. Sein berühmtes Höhlengleichnis, das die Nichterkennbarkeit der Welt illustriert, hat das Denken über 2000 Jahre aufgehalten.
Die Gipfel des Intellektuellenhasses sehe ich im Antisemitismus, denn es sind jüdische Menschen, welche weltweit die Masse an Intellektuellen gestellt haben und immer noch stellen, der Homophobie, denn es sind homosexuelle Menschen, welche eine große Masse an Kulturaktivisten stellen und auch in der Diffamierung und Ermordung von sich als fortschrittlich und „links“ (was immer das auch sein mag) verstehenden Intellektuellen als „Kommunisten“, welche gleichermaßen von Hitler wie von Stalin, wie von Pol Pot oder Mao, Breshnew oder Ulbricht, von McCarthy oder Pinochet verfolgt, ins Gefängnis geworfen und ermordet wurden. Je schlimmer die Diktatur, desto schlimmer die Intellektuellenfeindlichkeit. Auch Platons Vorstellung vom „Staat“ war nicht mehr als eine Diktatur.
Intellektuelle und Diktaturen vertragen sich nicht. Deswegen sind es auch die geistigen Nachfolger der Nationalsozialisten und Faschisten, welche sich besonders durch Judenhass, Homophobie und Kommunistenhatz hervortun. Denn vor nichts haben diese mehr Angst, als vor Intellektuellen, welche ihre Dummheit und Ignoranz durchschauen. Der Beifall der „Masse“ und der TUIs ist ihnen allerdings sicher.
vgl. auch dazu dieses YouTube Video von Gadamer ab 2:50
vgl. auch Haug, W. F.: „Intellektuellenfeindschaft“, aus: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/II, , Hamburg 2004, ISBN 3- 88619-437-X