Die durch Homer und Hesiod überlieferten Berichte von den griechischen Göttern habe ich vor allem durch Gustav Schwab, Ovid und zahllose Filme und Romane, Allegorien, Bilder und Geschichten als Märchen und Sagen in mein Alltagswissen übernommen.
Seit meiner Grundausbildung in Geschichte der Philosophie galt es für mich als sicher, dass mit Thales und Anaximander und in den kleinasiatischen Kolonien Griechenlands ein neues, logisches, wissenschaftliches Denken das alte mythische, märchenhafte, religiöse Denken abgelöst hat.
So, etwa beginnend im 7.-6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (manche sagen „vor Christus“ dazu) in Kleinasien, habe ein neues Denken von Ursache und Wirkung, vom universellen Zusammenhang das mythische Denken zerstört und das endgültig, vor allem mit dem Siegeszug der Wissenschaft, deren Gipfelsturm wir besonders in den letzten 50 Jahren beobachten können. Wir, die moderne Philosophie, stünden in der Tradition dieser Denker, deren Fragmente wir begeistert auswendig lernten.
Aber, bei genauerem Hinsehen, entdecke ich und Andere Ungereimtheiten. Zum Beispiel: Im Platon-Dialog „Gorgias“ (523) übersetzt Friedrich Schleiermacher diesen Text:
Sokrates: „So vernimm denn, wie man sagt, eine gar schöne Geschichte, die du wohl für ein Märchen halten wirst, wie ich mir denken kann, ich aber für eine Geschichte. Denn was ich dir jetzt mitteilen will, das sehe ich als Wahrheit an.“
λόγον übersetzt Schleiermacher mit „Geschichte“ und μῦθον mit „Märchen“. Platon verknüpft den Logos mit der Wahrheit: λεγειν (legein), dem Niedergelegten, legalen, post-aktiven Ruhendem, dem Gesetzten, dem Gesetz. Nach der Regel „Jede Bestimmung ist eine Negation“ (Spinoza) ergibt sich, dass der Mythos mit dem Märchen, dem Behaupteten, der erdachten Geschichte, dem nicht Festgesetzen, dem Unsicheren, der Lüge verbunden werden muss, denn das ist der Gegenbegriff.
Schleiermachers Übersetzung gilt als der Standard in der Platon-Lektüre. Schleiermacher scheint damit durchaus in der Tradition des Kampfes des Logos, der Wissenschaft, der Geschichte gegen den Mythos, die Lüge, die Religion zu stehen. Das ist um so bemerkenswerter, als dass Schleiermacher selbst Theologe und ein Religionsreformator war. Die moderne Philosophie ist im Kampf der Aufklärung gegen die Verderber der Religion, oft jedoch mit Angriffen gegen „die Religion“ entstanden. Dafür stehen unter vielen Anderen solche Namen wie Spinoza, Voltaire, Descartes, Feuerbach und Marx.
Schleiermacher setzt seine Auseinandersetzung mit der Religion an den Begriff der Religion an, indem er sie vom moralischen und metaphysischen Missbrauch als auch von „leerer Mythologie“ reinigt und sie auf bedingungslose Anschauung fokussiert – Hingabe:
„Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“(Schleiermacher: Über die Religion (28))
Und so kann er auch zu Recht Spinoza verehren, was zu seiner Zeit nicht nur unüblich, sondern auch gefährlich war:
„Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.“ (Schleiermacher: Über die Religion (30f))
Dieser Kampf des Logos gegen den Mythos wird von Wilhelm Nestle in seinem Buch „Vom Mythos zum Logos“ (1940) zum Hauptgegensatz der Geschichte der Philosophie, die „zwei Pole, zwischen denen das menschliche Geistesleben schwingt“(Einleitung) erklärt. Als das gilt dieser Gegensatz bei Vielen noch heute. Und so habe ich es in Leipzig 1977 auch von Prof. Seidel gelernt.
Auch in der marxistischen Philosophie wird der Hauptgegensatz der Philosophie, die sogenannte Grundfrage der Philosophie im Gegensatz von Materialismus, repräsentiert durch den wissenschaftlichen Logos und Idealismus, repräsentiert durch den Mythos gesehen.
Ein genauerer Blick macht mir Nestle jedoch sehr unsympathisch. Trotz seines immensen Wissens und seiner gigantischen Vorstellungskraft kommt er nicht umhin, zu seiner Zeit vorherrschende Ideologeme undiskutiert zu übernehmen. Die Fähigkeit der Griechen zur Entwicklung des Logos wird von ihm zum Beispiel aus der arischen Volkszugehörigkeit als der „höchstbegabten Rasse“ abgeleitet (Seite 6), der Rückfall ins mythische Denken in der christlichen Ära aus „jüdisch-semitischem“ Geist (Seite 10).
Ausserdem spielen die Einflüsse aus Indien und China, wo zur selben Zeit mit dem Buddhismus und dem Taoismus und dem Konfuzianismus ähnliche Denkweisen im menschlichen Denken auftauchten, bei ihm keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
Dazu kommt, seit ich mich mit dem Wesen des Erzählens beschäftige, werde ich zunehmend unsicher, ob dieser Gegensatz von Mythos und Logos so selbstverständlich ist. Überraschenderweise haben sowohl Nestle als auch Heidegger mich in dieser Unsicherheit bestärkt.
Nestle berichtet im selben Vorwort von J. Burckhardt, welcher nachweist, dass all das Räsonnieren der Griechen den Sieg des Logos über den Mythos nicht hat erreichen können, sie haben „auch nicht einen kleinen Gott oder Heros von seiner Stelle im Volkskult entfernen können“.
Ganz im Gegenteil! Die Erkenntnisse der griechischen Philosophen flossen in die theoretische Begründung des Christentums ein. Aristoteles war 1500 Jahre lang die Autorität Nummer 1 der christlichen Theologie. Buddhas, Lao-Tzis und Konfuzius‘ Überlegungen bildeten die theoretische Basis für die gegenwärtig herrschenden Weltreligionen. Das (vorläufige) Ende der philosophischen Denkweise führt hier offensichtlich direkt zum Aufblühen von mythischen Denkweisen.
Vergleiche dazu z. B den ersten Satz aus dem Johannes-Evangelium „Am Anfang war das Wort (λόγον)“ mit Heraklits Logos-Lehre:
Das Johannesevangelium (Joh 1,1 EU) beginnt mit den Worten:
Lutherbibel (1984):„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“
Griechisch: ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ Λόγος καὶ ὁ Λόγος ἦν πρὸς τὸν Θεὸν καὶ Θεὸς ἦν ὁ Λόγος
Transkription:„en archē ēn ho Logos kai ho Logos ēn pros ton Theon kai Theos ēn ho Logos“ (vgl.: hier)
Die Identifikation von Gott und Wort durch Johannes kann in zwei Richtungen gelesen werden:
- „Gott oder der Logos“ oder „Gottes Logos“ (im Sinne von Rede, Wort, Aussage). Im ersten Fall ist „Gott“ nur ein Synonym für den Logos, das Weltgesetz, welches in der Beobachtung der Phänomene der Natur aufscheint (diese Lesart finde ich später bei Heidegger wieder). Verglichen mit Spinozas berühmtem Satz „Deus sive natura“ (Gott oder die Natur) wäre die Entdeckung des Logos als der Erzählweise der immanenten Natur der Dinge der Beginn eines neuen Gottesbildes, in dem „Gott“ nur ein anderer Name für das Weltgesetz, die Natur der Dinge ist, kein Götze mehr, dem Allmacht (Omnipotentia) zugeschrieben wird, sondern eine der Welt innewohnende, durch Wissenschaft (Philosophie) erforschbare und entdeckbare ordnungsbildende Macht, welche in ihren Möglichkeiten unbeschränkt ist, Allmöglichkeit (Omnipotentia). Diese erste Lesart wäre diejenige Heraklits. Sein Auftrag an die Wissenschaft ist: „Verständigsein ist die wichtigste Tugend und die Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun, auf die Natur hinhorchend.“ (Fragment 112. Stobaios 3 „τὸ φρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη, καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαίοντας.)“
- In einer zweiten Lesart ist Gott der Schöpfer mittels des Wortes, so wie es auch in der Genesis geschrieben steht: „᾿καὶ εἶπεν ὁ θεός Γενηθήτω φῶς.“ (Und Gott sprach: Es werde Licht [Gen 1,3]). Logos wird hier als die Erzählweise der transzendenten Natur der Dinge genutzt. Die Benutzung von „εἶπεν (eipen)“ an Stelle von Logos allerdings verweist darauf, dass hier eine andere Art des Sprechens gemeint ist. Der Schöpfungsakt durch das Sprechen ist mit der Entdeckung des Logos in der Welt nicht zu identifizieren, sondern folgt erst daraus. Wenn ich weiß, wie die Welt funktioniert, kann ich sie nach meinen Willen ändern, den Logos in die Welt bringen. Deshalb kommt diese Form der Schöpfung erst im dritten Satz der Genesis vor. Der Beginn des Textes von Johannes betont nur die Göttlichkeit des Weltgesetzes: „das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“. Der Beginn, das ἀρχῇ (arche), von dem Johannes hier spricht, ist der Beginn der Erkenntnis der Göttlichkeit, der Natur, des Logos in den Dingen, im Gegensatz zum Tohuwabohu, der Wüste und Leere, des Chaos. So wie in der Erzählung der Genesis vor dem Wort Gottes schon etwas da war (der Geist Gottes schwebte über den Wassern), in das Gott mittels des Wortes Ordnung bringt, so ist in der Aufforderung Heraklits die Natur nur beherrschbar, wenn vorher auf sie hingehört wird.
In der ersten Lesart ist der Logos göttlich, weil er die wahre Natur der Dinge erzählt. In der zweiten Lesart ist der Logos wahr, weil er von Gott erzählt wurde.
Doch wenn die Wahrheit einer Aussage von der Autorität der erzählenden Person abhängt, sind wir wieder beim Mythos. Die kirchlich sanktionierte Lesart des göttlichen Logos hat den Logos durch den Mythos ersetzt. Und auch darin begründet sich der tausendjährige Gegensatz von Kirche und Wissenschaft.
Erst in der Aufklärung und mit der Wiederentstehung des wissenschaftlich-logischen Denkens kommt die philosophisch-logische Denkweise wieder ins öffentliche Bewusstsein.
Heideggers Analyse der Begriffe Phänomen und Logos basiert vor allem auf der Untersuchung der Verwendung dieser Begriffe durch Aristoteles und Platon und auf der griechischen Etymologie von φαινόμενον (fainómenon) und λόγος (logos) (vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 16. Auflage 1986 S. 28 und 32). Diese Ignoranz gegenüber dem Mythos-Logos Gegensatz von Nestle überrascht auf der einen Seite, weil Heidegger ein penibler und detailversessener Wissenschaftler ist, auf der anderen Seite überrascht es nicht, ist Heidegger doch nicht gerade für seine Widerstandskraft bekannt.
Das φαινόμενον (fainómenon) bezeichnet bei ihm das „sich Zeigende„, das Offenbare, und λόγος (logos) bezeichnet Offenbar machen, das wovon in der Rede „die Rede“ ist. Logos ist also die Stimme, die das, was sich zeigt, bezeichnet, verknüpft und bewertet, urteilt. Heidegger findet, dass diese Stimme den Namen der Vernunft verdient (ebenda S. 34). Für Heidegger ist also nicht der Gegensatz von Mythos und Logos, sondern der Gegensatz von Phänomen und Logos signifikant. Das Thema „Mythos“ kommt in „Sein und Zeit“ nur zwei Mal vor. Einmal als Kombination „mythisch und magisch“ und ein andermal in Referenz auf Cassirer und seiner Interpretation des mythischen Denkens. Heidegger geht es offenbar nicht um Kritik an Religion oder Mythos, sondern darum, herauszufinden, wie aus der Beobachtung verbindliches Wissen wird.
Eine genauere Betrachtung zeigt mir, dass μῦθος (mythus) ebenso eine Form des Erzählens von Phänomenen, Erlebnissen, Erfahrungen ist wie λόγος (logos). Etymologisch zeigt sich, dass beide Worte fast identisch, manchmal synonym gebraucht wurden und erst spät auseinanderdrifteten.
Walther Kranz diskutiert dies ebenfalls 1949 in seinem Text „Der Logos Heraklits und der Logos des Johannes“. (Kranz, Walther. “Der Logos Heraklits und der Logos des Johannes.” Rheinisches Museum für Philologie 93 (1949), pp.81-95.) Kranz stellt fest, dass Heraklits Schrift ein λογοσ, eine lebendige Rede, ist.
»Aber diese „Rede“ Heraklits ist zugleich eine „Lehre“, und, da sie den Weltsinn, das Weltgesetz zu enthüllen sich anschickt, so ist sie inhaltlich gesehen auch zugleich „Sinn“, „Gesetz“, so daß also ὂδε ὀ λογοσ in diesem Prooimion meint: „das in dieser vorliegenden Rede offenbarte Weltgesetz“.«(Kranz, 82)
Kranz bleibt in seiner Analyse allerdings ganz der Identifikation von Logos und sich offenbarendem Geist verhaftet (Kranz, S.88):
„Jedem, der Griechisch sprach, öffnete sich mit jenen (des Johannes’) Eingangswort das Tor in die Lehre vom Logos als dem Geist, wie er sich zunächst in der griechischen Sprache, weiter aber in der ganzen Erscheinungswelt offenbart.“
Der Logos als immanentes Weltgesetz bleibt dem Idealisten Kranz fremd und so wendet er sich auch gegen Bultmanns Argumentation, welcher Heraklit und Johannes nicht zusammenbringen kann, weil „hier (bei Johannes) Transzendenz, dort (bei Heraklit und der Stoa) Immanenz“. Kranz kennt auch die Verbindung zwischen dem Logos und dessen Botschafter Hermes Trismegistos (S.94f), sieht aber auch hier nicht eine Erzählweise und einen Erzähler-Boten, sondern nur eine Früh- bzw. Fehlinterpretation, eine „volkstümliche Vergötterung“, gegen welche sich Johannes wehre.
Erzählweisen von Weisheit
Das Erzählen von dem, was jemand erlebt hat, etwa auf einer Reise, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit ist eine andere Form als das Hinweisen auf „Dieses, Da, Jetzt“. Hier haben wir es nicht mehr mit dem Phänomen zu tun, auf das hingewiesen werden kann, sondern mit dem Phänomen, von dem berichtet wird. Es ist gleichzeitig ein Erzählen vom Sinn, vom Weg.
Das Wissen, die Weisheit, die Zeugenschaft, das „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen“, der Beweis ist vermittelt durch den Zeugen, den Erzähler, den Sänger, den Märchenerzähler. Alle diese Worte enthalten noch den Wortbestandteil des Weisens. Da wir, die Zuhörer, die Rezipienten Es nicht gesehen, erlebt haben, müssen wir der Erzählung glauben. Und das genau ist der Mythos: Eine Erzählung, der wir (in der Regel unter Androhung realer oder fiktiver Strafen) glauben müssen oder auch nicht.
Deshalb bedarf der Mythos des Schutzes der Staatsmacht, natürlich nur je die Form des Mythos, welche der jeweiligen Herrschaftssituation entspricht, dies geschieht historisch oft im Gegensatz gegen naturwüchsig entstehenden Mythen, wie Volksmärchen oder unterdrückte Religionen und Glaubenssysteme. Umgekehrt kann man sagen, wenn eine Erzählweise des Schutzes der Staatsmacht bedarf, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen Mythos.
Dass die Schutznotwendigkeit eines Mythos omnis determinatio est negatio dessen Schwäche gegen den Logos proklamiert, wird von Glaubenskriegern in der Regel nicht wahrgenommen. Ein z.B. physikalisches Gesetz muss nicht durch die Todesstrafe geschützt werden, weil die Nichtbeachtung dieses Gesetzes einen Schaden automatisch nach sich zieht, also keines strafenden Subjektes bedarf.
Der Mythos ist daher der Lüge, der (Selbst-) Täuschung, dem Märchen, der Sage näher als der Logos, wenn auch keinesfalls damit zu identifizieren, wie es Schleiermacher zu tun scheint.
Im Gegensatz dazu steht die Erzählweise des Logos.
»Fast ganz gemieden von der homerischen Poesie, die statt dessen μῦθος oder ἒποσ sagt, mit verschiedener Sinnesnüancierung, nimmt λογοσ seit Hesiod in der Bedeutung Wort, Rede, Erzählung seinen Weg auch durch die epische und die andere dichterische Sprache wie durch die der Prosa, so wie es der griechischen Sprache des Lebens bis zum heutigen Tage angehört.«(Kranz, 81-82)
Das Wesen des Weisen ändert sich, von dem, welcher aus seiner Erfahrung, seiner Wahrnehmung, seinen Phänomenen berichtet, zu dem, welcher über Wirkungen, Regeln, Zusammenhänge Bescheid zu wissen fähig ist, welche auch ohne seine Zeugenschaft Gültigkeit und Wahrheit haben. Hier haben wir den Liebhaber des Wissens, den Philosophen φιλόσοφος (philósophos) und einen Paradigmenwechsel im Berichten vom Wissen selbst von der Erfahrung hin zur Ableitung, der Wiederholbarkeit des „wenn … dann“. Diese Erzählung muss nicht geglaubt werden, sondern wird als Hypothese angenommen und in der Praxis überprüft.
„Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz.“
(Hegel. Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Zweites Buch. Die Lehre vom Wesen. Erster Abschnitt: Das Wesen als Reflexion in ihm selbst. Drittes Kapitel: Der Grund. C. Die Bedingung. c. Hervorgang der Sache in die Existenz. 122)
Eine solche Kausalität scheint im Mythos auch enthalten: Wenn Agamemnon seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis opfert, dann kann er seine Flotte in den Krieg nach Troja führen. Meistens ist die Kausalität jedoch verzwickter, Iphigenie überlebt und spielt bei der Rettung ihres Bruders Orestes vor den Taurern eine entscheidende Rolle. Die Kausalität des Mythos ist eine Kausalität des Versprechens, der Drohung oder der Hoffnung – kurz – Techniken der Motivation und Manipulation.
Spannend ist in diesem Zusammenhang der Hinweis Kranz‘ auf den griechischen Gedanken seit Theagenes, dass Logos mit Hermes (ερμηνευσ), dem Gott der Händler, der Diebe, der Redekunst, dem Boten zwischen den Göttern und den Menschen in Verbindung gebracht wird (Kranz, 94).
Die Kausalität des Logos wirkt also auch, wenn sie nicht geglaubt wird. Deswegen bedarf der Logos keines Schutzes durch eine Staatsmacht, der Logos ist gestützt durch die tägliche Erfahrung: „Wenn ich kein Essen habe, verhungere ich.“ Das kann jeder sehen, das muss nicht geglaubt werden. Der Logos ist die Widerspruchsfreiheit innerhalb eines gegebenen Systems von Prämissen, damit Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens. Die Grenzen des Logos, die Prämissen und die Ziele von Menschen sind Gegenstand des Mythos.
Mythisches Erzählen ist eine ursprüngliche, archaische Form des Berichtens persönlicher Erfahrungen. Mythisches Erzählen ist durch die Unmittelbarkeit des Erlebens geprägt, besondere Elemente sind die Dramatisierung durch Personifizierung und Analogisierung, um die Verständnisschwellen, welche durch unterschiedliche Erlebniswelten entstehen (die Erlebniswelt der Steppenbewohner im Gegensatz zu der der Küstenbewohner/ Seefahrer die sich zum Beispiel in der jahwistischen und der elohimistischen Erzählung der Weltentstehung in der Genesis zeigen), zu überwinden.
Das Erzählen hat eine besondere Rolle in der Menschwerdung gespielt. Bernhard Victorri definiert den Menschen sogar als Homo narrans.
Dabei muss das Erzählen allerdings nicht unbedingt sprachliche Form annehmen: “An Ihren Taten sollt ihr sie erkennen!” ist ein Verweis darauf, dass auch die Produkte von Taten, zum Beispiel der Faustkeil, oder eine bestimmte Art, etwas zu tun, also einen Faustkeil oder ein ägyptisches Relief herzustellen, Formen des Erzählens sind.
Logisches Erzählen ist durch aus einander abgeleitetes Berichten oder Darstellen in der Form “Wenn … dann …”, oder “Weil … daher” geprägt. Logisches Erzählen ist eine besondere, meist als modern und wissenschaftlich verstandene Form des Erzählens.
Der Logos hat daher auch den Anspruch, den Mythos als archaischere Form des Erzählens abgelöst zu haben.
Ganz so ist es aber nicht, die logische erweist sich immer wieder als eine andere Form der mythischen Methode. Auch Wissenschaft verbreitet Mythen, stützt sich auf Mythen oder setzt sich mit Mythen auseinander. Es gibt keine Feindschaft oder Ausschliesslichkeit zwischen diesen beiden Formen des Erzählens.
Mythos und Logos sind nach meiner Auffassung zwei Seiten der Erzählung von Wissen und auch bei Wissenschaftlern finden wir beide Formen. So wie Parmenides und Platon sich der Technik des Mythos bedienten, um ihre logischen, wissenschaftlichen Erkenntnisse zu popularisieren, so bedienen sich auch Einstein und andere moderne Wissenschaftler der erzählerischen, narrativen Techniken, um ihre Erfahrungen, ihr Wissen zu beschreiben.
Claude Lèvi-Strauss schrieb 1958 „Vielleicht werden wir eines Tage entdecken, daß im mythischen und im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch allezeit gleich gut gedacht hat. Der Fortschritt – falls dieser Begriff dann überhaupt angemessen ist – hätte nicht das Bewußtsein, sondern die Welt als Aktionsraum, in dem eine mit konstanten Begabungen ausgestattete Menschheit im Laufe ihrer langen Geschichte mit immer neuen Objekten ringen mußte.“ (Anthropologie. 11. Kapitel. die Struktur der Mythen. Suhrkamp 1971 S. 254)
Diese Logik ist nach meiner Überzeugung die Logik des Erzählens, von der mythos und logos nur zwei Formen sind.
Mythologie beschäftigt sich mit der mythischen Erzählweise, Logik mit der logischen Erzählweise von Wissen.
Das Besondere an der logischen Technik des Erzählens, insbesondere im Zeitalter der mediengestützten Informationsübermittlung ist die Geschwindigkeit der Ausbreitung von Wissen, welche zu dem exponentiellen Wachstum bis in unsere Zeit geführt hat, welches wir Menschheitsgeschichte nennen.
Besonders Lehrer und Lehrerinnen stehen dabei oft auf der Seite der mythischen Methode (auch an die Existenz einer 1 muss zunächst geglaubt werden, oder hat auch nur ein Lehrer in der Grundschule versucht, Ihnen die Existenz einer Wesenheit namens Eins – 1 zu beweisen?). Diese Wissenschaftsmythen werden genau so vermittelt, wie jeder andere Mythos, begleitet mit Drohungen, Strafen und Bewertungen, Noten und Gewalt.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch stehen eher auf der Seite des Zweifels und des Logos, der Ableitung ordine geometrico, in der Art und Weise der Mathematik. Dieser Zweifel muss dann im Studium erst wieder aufwendig erlernt werden, durch „critical thinking“ oder durch Skepsis.
Diese Figurenkonstellation zeigt sich in modernen, vor allem amerikanischen Erzählungen, wie der Fernsehserie „The Big Bang Theorie“ in dem Widerspruch vom Nerd Dr. Dr. Sheldon Cooper und seiner Mutter, einer christlichen Fundamentalistin oder in „Zurück in die Zukunft“ in dem Widerspruch kluger Schwächling (Marty McFly)/Verrückter Wissenschaftler (Doc Brown)/ Einzelgänger versus Bully (Biff) + die für amerikanische Filme so typischen beschränkten Staatsorgane (Polizei, FBI).
Das Thema Mythos und Logos ist noch nicht aus der Welt, im Gegenteil, es ist aktueller denn je.