Von Spandrels zur Serendipity

Bei Precht schrecke ich oft vor seinen Verallgemeinerungen zurück (auch weil ich diese als Fehler oft bei mir sehe). Sätze, die mit „Wir (alle) sind …“ beginnen, sind mir daher, wenn ich wissenschaftlich arbeite, suspekt, denn ich sehe hier das heimliche Einführen von Prämissen.
Was das „unordentliche Gefühl“, die Liebe als Spandrel betrifft, habe ich die gleichen Schwierigkeiten. Es ist witzig, es scheint originell, aber es zeigt nur einen Mangel, dialektisch zu denken.
 
So kommt Precht auch nur zur Schlussfolgerung: „Im genetisch-evolutionären Sinne bleibt die geschlechtliche Liebe eine ‚harmlose Überflüssigkeit‘“(Precht, 2010, S.167). Dabei findet er doch am Ende (Precht, 2010, S. 375) die eigentliche Bedeutung: „Wenn wir uns verlieben, öffnen wir den Sinn für unsere Möglichkeiten.“, und nimmt es in den folgenden Sätzen wieder zurück, in denen er die Liebe nur noch als Einschränkung beschreibt.
 
Das höchste, was da herauskommt, sind Zirkel. 
 
Hegel sprach bei seinen Versuchen, Entwicklung grafisch darzustellen, von „in sich gewendelten Spiralen“ in denen sich diese Zyklen ständig, wir würden jetzt sagen, fraktal, wiederholen. Ich vernachlässige hier bewusst seinen Ansatz, diese Spirale letztlich wieder in sich selbst zurückkehren zu lassen, also einen Endpunkt der Entwicklung zu konstruieren, weil er da gegen sich selbst spricht. Solche Zyklen sind meines Erachtens nur sinnvoll, wenn sie fraktal, also als Abbildung eines Entwicklungsprozesses, als ständige Wiederholung auf verschiedenen Ebenen mit qualitativen und quantitativen Änderungen gesehen werden.
 
Ich mag hier mehr den Begriff der Serendipity, das glückhafte Finden. 
Dieses Entdecken von Möglichkeiten, während man nach was ganz Anderem sucht, ist in Townmeeting-Atmosphären wahrscheinlicher, als in diesen unsäglichen Konferenzen, in denen vorbereitete Vorträge und Diskussionsbeiträge (bewusst) keine Offenheit zulassen.
 
Jeder weiß, dass der eigentliche Wert solcher Konferenzen in den Gesprächen in der Pause, am Buffet besteht, dem Ort für Serendipity.
 
Die Begriffe „Komm ins Offene“ (Hölderlin), Räume zur Verfügung stellen (wie im Palacio de Cibeles in Madrid), oder eben das „Feld“, die Wir-Gruppe von Lewin, beschreiben meines Erachtens genau das: Der Raum, der leer ist, erzeugt ein Sehnen, in das Begehren einströmt (Lacan), er wird gestaltet durch Akteure, die im Wesentlichen, getrieben von individuellen Gefühlen und Interessen, Gruppengefühle und Gruppeninteressen entwickeln, von denen sie nicht gewusst haben.
 
Sie werden kreativ. Kreation meint hier tatsächlich die Schöpfung „en passant“, also nicht das geplante aristotelische Formen des Stoffes, auch nicht das sokratische Herausschälen dessen, was schon im Stoff vorhanden ist, sondern die überraschende, plötzliche, unplanbare Aufdeckung, das Finden der Lösung, die überraschende Wendung, an der vor allem die Aussenseiter, die Verrückten, die Störenfriede, die Unangepassten so sehr beteiligt sind, das es gleichzeitig eine gute Story ausmacht, deren Protagonisten eben diese Aussenseiter in der Regel sind.
 
Die Erhöhung von Freiheitsgraden erfordert aber Vertrauen von denen, welche Macht und Verantwortung ausüben und denen der Sinn mehr nach Kontrolle steht. 
 
In der Kirche, dem Glaubensunternehmen, wie in jedem Wirtschaftsbetrieb entwickelt sich daher regelmäßig die beginnende Omnipotenzia als (unordentliches) Meer von Möglichkeiten: alles ist möglich, zur Omnipotenzia als geordnete hierarchische Allmacht und Verantwortungsübernahme der Führer und Leiter.
 
Auf Grund der Natur der Menschen und der Natur selbst werden diese Fesseln regelmäßig durchbrochen und so schwingen alle Systeme zwischen den Polen von Ordnung und Offenheit. Letztere wird oft als Chaos missverstanden, doch das absolute Chaos am Anfang und Ende unserer Welt, die durch Entropie erzeugte Ursuppe, ist gleichzeitig die absolute ideale Ordnung – der genau gleiche Abstand zwischen allen Teilchen – atome – bis eines der Teilchen auf die verrückte, freie Idee kommt, zu deklinieren, von der geraden vorgezeichneten Bahn abzuweichen – Der Raum für dieses deklinieren ist zum Beispiel das Town Meeting, der Story Circle, das Projekt, der open Space.
 
Die Liebe als Eros hat deshalb nicht umsonst in der griechischen Mythologie (auch bei Parmenides) die Doppelrolle des Beginners und verbindenden Erhalters, der auch die Veränderung erhält, mit der Unruhe und Unberechenbarkeit der Liebespfeile, die zufallen – Am Anfang entstand Chaos, die Erde und Eros der alles verbinden wird, als zweifacher Gott, der alles erschaffen hat und alles gleichzeitig entzweit und verbindet, im Strudel der Gefühle.  So stellt es Platon im „Gastmahl“ dar und da hat, wie soll es anders ein, Diotima das letzte Wort.