Motivation oder Manipulation

Klein Lieschen hat die Vase von Erbtante Erika heruntergerissen, sie steht vor dem Scherbenhaufen und weint. Mutter hat das Geräusch gehört, kommt gelaufen und schimpft: „Warum hast du das getan?“ Was haben wir hier? Zunächst haben wir das Ergebnis einer Bewegung. In diesem Fall ist es ein Scherbenhaufen. Klein Lieschen weint, weil sie mit dem Ergebnis ihrer Bewegung nicht zufrieden ist. Mutter schimpft aus dem selben Grund. Aber da ist noch mehr:

  • Warum ist Lieschen nicht zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Bewegung der Vase?
  • Ist Lieschen jetzt für immer böse und wird ein schlimmes Ende nehmen?
  • Wieso kommt Mutter auf die Idee, dass die Vase von Lieschen mit einer Intention, also absichtlich, zerschmettert wurde?
  • Was geschieht nun mit Lieschen?
  • Wird sie sich eine Begründung ‚post festum‘ ausdenken?
  • Wird es eine gerechte Strafe geben und was wäre das eigentlich?
  • Kann eine solche Strafe zukünftiges Verhalten von Lieschen, insbesondere in Bezug auf die anderen 20 Vasen von Erbtante Erika verändern?
  • Warum schimpft Mutter, obwohl sie die Vasen von Erbtante Erika selbst nie benutzt und in Wirklichkeit hasst, weil sie sie hässlich findet?
  • Hätte das Handeln von Lieschen verhindert werden können, hätte sie rechtzeitig eine Fortbildung erhalten?

Wir haben hier viele Grundfragen der Ethik und der Handlungstheorie versammelt.

Was gilt nun also?

Motivation (gut!) oder Manipulation (böse!)?

Entweder ein Mensch tut etwas oder er tut etwas nicht. Wenn ein Mensch etwas tut, was mehr ist als nur einfache Bewegung, so gibt es dafür einen Grund oder ein Motiv. Motivation ist also nicht notwendig. Wozu dann also Motivation?

Offensichtlich benötigen wir Motivation nur dort, wo Menschen etwas tun sollen, was sie nicht schon selbst und aus sich heraus tun würden.

Jede Motivation ist also per Definition Verhaltensbeeinflussung und jede Verhaltensbeeinflussung ist Manipulation. Wer manipuliert und wer motiviert, versucht, Menschen dazu zu bewegen, etwas zu tun, was sie ohne Intervention nicht getan hätten.


 

Literatur:

Riemann, Grundformen der Angst

  • die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt
  • die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt
  • die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit empfunden
  • die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt

Dagegen argumentiert Gerda Jun, welche mehr die inneren Ressourcen als Grundlage für Charakterunterschiede sieht.