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Menschen, die anders sind

Von der großartigen Psychologin Gerda Jun wurde das Buch “Kinder, die anders sind. Ein Elternreport” veröffentlicht. Das war im “Internationalen Jahr der Geschädigten” 1981. Das Buch zu veröffentlichen war nur möglich, weil es zu dieser Zeit in der DDR kein anderes Werk gab, welches sich überhaupt mit dieser Gruppe von Menschen beschäftigt hatte.

An diesem Buch ist für mich der Titel besonders bemerkenswert. Wir leben in einer Zeit, in der um die “richtige” Sprache gerungen wird. Es wird versucht, die Andersartigkeit von Menschen, den ganzen Reichtum der Vielfalt sprachlich anzuerkennen. Diese Versuche wenden sich gegen den Ausschluss von Menschen aus Macht, ja sogar der Menschlichkeit, per Definition und nimmt daher den Charakter von Aufnahmediskussionen an. 

Frau Jun war sich dessen sehr bewusst, wie ich in einem Gespräch mit ihr sicherstellen konnte. Anderssein öffnet das Feld einer Reichtumsdiskussion, welche weit über Beteiligungskämpfe, Integration oder Inklusion hinausgeht.

Marcus Terentius Varro (116–27 v.u.Z.) bezeichnet in seinem Werk „De re rustica“ (Über die Landwirtschaft, einem Handbuch für seine Frau, welche sich ein Landgut gekauft hatte) Sklaven als „instrumentum vocale“, ein Instrument (wie einen Pflug oder Ähnliches), doch mit Sprache. Dieser Begriff ist als Beweis für die Entmenschlichung von Sklaven seither oft kolportiert worden, auch wenn Varro das wohl gar nicht so gemeint hat. Schließlich hatten Menschen mit Sklavenstatus über die ganze Antike oft sehr hohe und geachtete Positionen in Haushalten und konnten diesen Status durch Freigelassenwerden auch ändern, im Unterschied zu angeborenen Unterschieden.

Wie so oft zeigt sich, bei genauerer wissenschaftlicher Betrachtung, dass es einen großen Unterschied zwischen der ideologischen Verwertung von Worten und deren historischen Gehalt gibt. 

Ein Anderssein abwertend als „nicht menschengemacht“, nicht willkürlich, sondern natürlich unabwendbar oder, was dasselbe bedeutet, göttlich bestimmt zu definieren – Behinderungen galten und gelten immer noch als Schicksal, an einigen Orten gar als Gottesstrafe – ist also immer ein Machtakt. Sie dient der Begründung von Machterhalt wie von Machtwechsel.

Die Diskussion der Wortverwendung geht daher oft zwischen der „wissenschaftlich exakten“ und „politisch korrekten“ Verwendung hin und her und wird entsprechend energiereich geführt. 

Wie so oft zeigt sich, dass Versuche der sozialen, sexuellen, kulturellen Entmenschlichung sich bei genauerer Betrachtung eher als moderne, der Epoche der Aufklärung, des Kapitalismus zugehörende Herrschaftstechniken erweisen.

Daraus entstehen heftige Diskussionen um das “Ändern” von Sprache. Nicht jedem gefällt es, wenn Sprache die Existenz verschieden lesbarer und verschieden gelebter Geschlechter, die Existenz verschiedener Herkünfte und Hautfarben anerkennt. Noch brutaler wird auf die Unschärfen, die Übergänge, sei es bei den Geschlechtsunterschieden oder den Herkunftsunterschieden usw. reagiert. 

Werden diese Unschärfen in vielen intakten Menschengruppen eher als Reichtum gepflegt, mit eigenen Namen und Ehrungen, werden sie in der „Moderne“ eher ignoriert, gehasst oder gar verfolgt.

Wenn das Wort “man” zwar wohl ursprünglich die Menschheit bezeichnet hat, aber in den letzten ca. 6000 Jahren vor allem auf Männer angewendet wurde, muss sich nicht gewundert werden, wenn bei neuen Kräfteverhältnissen auch immer wieder neue Sprachformen ausprobiert werden. Seit der sprachlichen Unterscheidung der “Frau” vom “Mann”, die wohl zu Beginn der Sesshaftigkeit der Menschen entstanden ist, tobt der Kampf um die Verwendung von Genderbegriffen.

Es gibt einen Grund, weshalb in allen Mythen der Menschheit irgendwann eine Trennung von Mann und Frau beschrieben wird. Das ist möglicherweise der besonderen Rolle der (alten) Frau, welche zu Hause den Herd und damit das Feuer, die wichtigste gebändigte Naturkraft hütet, zuzuschreiben. 

Damit war und ist nie das Mädchen, die Jungfrau, übrigens auch nicht der Knabe, gemeint. Diese erhalten ihre Menschlichkeit erst mit dem ersten Kind oder, bei Männern, deren Vatereigenschaft nicht sicher bestimmbar ist, symbolisch vorweggenommen, mit der Heirat.

Was damals eine Machtposition war, und noch jetzt in vielen Lebensformen ist, nämlich zu Hause, im Haus, bleiben zu können und nicht jagen oder arbeiten zu müssen, wird einige Epochen später zu einer Unterdrückung, Die Frau soll wie das Mädchen zu Hause bleiben, am Herd und bei den Kindern, darf nicht arbeiten und nicht herrschen. Die Herrschaft der Väter löst die Herrschaft der Mütter zumindest ausserhalb des „Hauses“ ab. 

Diese Machtkämpfe spiegeln sich in der Sprachentwicklung wider. Der Name des Mannes wird aus dem der Frau abgeleitet und wird als der Name des Vaters ein Herrschaftssymbol.

Im Mittelhochdeutschen ist fraw-jon die Bezeichnung für den Herrn, frouwa der der Herrin, was heute noch in der Fronarbeit, dem Dienst an der Herrin und dem Herrn erhalten ist. Das etymologische Wörterbuch sagt dazu aus: „… einen vielleicht älteren Zustand zeigen die anord. Götternamen Freyr m. und Freyja, die wohl ursprungsgleich sind; sie unterscheiden *frauja- m. und *fraujon f.“ ( Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Auflage. De Gruyter, Berlin/New York 1999) Hier scheint sich der Name des männlichen Herrschenden vom weiblichen abgespalten zu haben. Dass Eva von Adam abgespalten wird, ist eine sehr späte Erfindung. Die Etymologie zeigt eher das Gegenteil, nämlich eine Abspaltung des (Begriffes des) Mannes (Herr) von (dem) der Frau (Herrin).

Es scheint so, als wenn zuerst „Mensch“, dann „Frau“, dann erst „Mann“ entstanden ist.

Auch im Altenglischen wird das genderneutrale “man”, welches eine Person bezeichnet, unterschieden in “wer” für den Mann und “wif” für die Frau. Damit ist in der Regel, wie an der Bedeutung des Wortes “Wife” gesehen werden kann, die verheiratete Frau, die Mutter, eine erwachsene Person weiblichen Geschlechts, bezeichnet. “Woman” heißt also “weibliche Person” (wifmen). „Werman“ ist zum Beispiel noch in Werwolf erhalten geblieben.

Die Aneignung des “man” für den “Mann”, also der sprachliche Ausschluss der Frau aus der “Menschheit” ist später als Widerspiegelung von patriarchalen Machtverhältnissen entstanden. Als solche wird diese Gleichsetzung heutzutage auch mit einem gewissen Recht angegriffen.

Ähnliche Entwicklungen finden wir bei der Rassismusdiskussion. Rassismus, also die Benachteiligung von Menschen auf Grund eines genetisch behaupteten Unterschiedes, setzt den Begriff der Rasse voraus. Es gibt erhebliche Zweifel daran, ob dieser Begriff überhaupt auf Menschen angewendet werden kann, geschweige denn soll. 

In Nordamerika hat sich dieser Begriff als “Geusenwort” entwickelt. Zunächst zur Abwertung gedacht, wird es jetzt mit Worten wie “bipoc” (Black, Indigenous und People oColor) oder PoC (People oColor) aktiv im Kampf gegen die Hegemonie der “Weißen” eingesetzt.

Wer jetzt gegen diese Verwendung der Begriffe als selbst rassistisch argumentiert, vergisst, dass die Erfindung der “Weissen Rasse”, des “Weißen Menschen” während der Renaissance und des Kolonialismus vom ersten Tag an der Unterdrückung der je anderen “Rasse” diente. 

Die Unabwendbarkeit von durch die Geburt zugeordneten Eigenschaften macht es möglich, die Herrschaft von einer willkürlichen, epischen subjektiven Festlegung: “Ich habe den Kampf gewonnen, ich habe die Gewalt, ich habe also die Macht” oder einer mythischen subjektiven Zuschreibung:“Mein Machtanspruch ist mir aus Gottes Gnaden per Geburt zustehend wie allen meines Geschlechts, ich bin ein besonderer Mensch, ein Edelmensch“, in eine objektive Feststellung, in ein Naturgesetz, Logos, zu verwandeln: “Ich bin weiß, alt, männlich, also habe ich einen angeborenen Herrschaftsanspruch, der mir nur noch genommen werden kann.”

Das eigene Anderssein wahrzunehmen, als Reichtum, statt als Mangel, ist ein bedeutender Akt der Identitätsbildung des einzelnen Menschen. Das geschieht durch Einschluss: Ich bin wie Du oder auch Ausschluss: Ich bin nicht wie Du. 

Dafür haben die Menschen dann Geschlechter, Klassen, Kasten, Schichten, Riten, Geheimbünde, öffentliche Bünde, Parteien und wohl auch den Rassen-, Klassen- und Genderbegriff entwickelt. Und diese werden bei jedem Machtwechsel neu in Frage gestellt. Rassismus, Sexismus, Ableismus etc. sind nur perfide Formen dieser Machtkämpfe.

Wir sind alles Menschen, die anders sind.

(Beitragsbild: Dall•E)