Jedes Ereignis wird Geschichte dadurch, dass es berichtet wird. Als Bericht kann es geglaubt oder bezweifelt werden. In jedem Fall wird es Bestandteil der eigenen Geschichte des Zuhörers. Da jede Geschichte eine Erzählung und auch der Bericht eine Erzählung ist, kann nach kurzer Zeit kein Unterschied mehr gefunden werden zwischen einem Bericht und einer Geschichte. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Geschichte ist als Vergleich mit der Vergangenheit nur noch durch den Vergleich mit Artefakten, welche in der Gegenwart erhalten sind, möglich.
Dieser Vergleich jedoch ist immer Auswahl oder Deutung und als solche fehlerbehaftet, eingeschränkt, subjektiv. Sei es, dass die
- Natur des Gegenstandes selbst (ein Monument aus Stein ist haltbarer als eines aus Holz, daher sind uns die Denkmale aus Stein eher übermittelt als die aus Holz, die Vergangenheit, so wie sie in der Gegenwart in ihren Artefakten sich darstellt, ist also durch die Existenz steinerner Artefakte stärker geprägt als durch Artefakte aus Holz) oder die
- Natur ihrer Übermittlung (die dramatische Geschichte, mit überraschenden Effekten, Erhabenheit und Größe, Nicht-Alltäglichkeit wird eher berichtet als der Alltag, als durchschnittliche, kleine, wiederkehrende und schwache Ereignisse) oder die Entscheidung für den
- Fokus des Erzählenden jetzt (Der Standpunkt des Siegers, ja, worauf Walter Benjamin hinweist, ALLER Sieger bisher, definiert die Erzählung von der Geschichte, der Klassenstandpunkt der Erzählenden, dessen Parteilichkeit definiert, was erzählt wird, die Geschichte eines Sunniten wird sich immer unterscheiden von der Geschichte eines Schiiten),
in jedem Fall wird also das Jetzt die Wahrnehmung des Damals definieren.
Selbst wenn der Versuch unternommen wird, so wie es Jürgen Kuczynski tat, den Alltag des deutschen Volkes als Geschichte zu beschreiben, wird doch die Wahrnehmung dieser Beschreibung durch die Späteren schlicht nicht stattfinden.
Interessant ist, wie sehr die erzählte Geschichte in die eigene, geeignete, angeeignete Geschichte des Individuums eingeht. Die erzählte Wirklichkeit hat nahezu die gleiche Wirkung wie die erlebte Wirklichkeit. Ein aus der Erzählung eines Horrorfilms oder einer Sage zum Beispiel entstandenes Trauma hat nahezu die selbe hemmende Wirkung als ein durch Erlebnisse bedingtes Trauma. Die Angst vor erzählten Gespenstern ist fast so groß wie die Angst vor einem Elektroschock am Weidezaun, nachdem er einmal erfahren wurde.
Fast meint hier doch noch einen deutlichen Unterschied feststellen zu müssen. Dieser Unterschied ist aber an das Individuum gebunden, mit dem Verschwinden des Individuums aus dem Wahrnehmungsraum, durch Abreise oder durch Tod, verbleibt nur noch die Erzählung. Mit dem Verschwinden des Weidezauns aus der unmittelbaren Erlebniswelt des Individuums bleibt nur die Erinnerung, die körperliche Erzählung des Erlebnisses, die als Trauma das künftige Verhalten beeinflusst.